Peter Krämer
Perfekt und Vergangenheit
Eine kritische Betrachtung
(Erschienen in: informationen zur
deutschdidaktik 3/2000, 41-47)
Die Bezeichnungen
der einzelnen Tempora sind bis heute der lateinischen Terminologie
verpflichtet. Gemeinhin wird folgendes System als Ausgangsbasis für Analysen
der Indikativformen des Verbums vorausgesetzt:
Perfekt |
Präsens |
Futur |
Plusquamperfekt |
Imperfekt |
Futurum
exactum |
Dagegen spricht
auch nichts, solange man die genannten Termini als Etikettierungen
ausschließlich der formalen Größen verwendet.
Problematisch wird
es allerdmgs, sobald als deutsche Entsprechung für das formale „Präsens“ die
Bezeichnung „Gegenwart“ Verwendung findet, denn die Leistung der formalen Größe
Präsens ist in der deutschen Gegenwartssprache bei näherer Betrachtung nicht in
der Versprachlichung gegenwärtiger Ereignisse zu erblicken: Der Gegenwartsbezug
wird nicht durch die formale Form, sondern durch zusätzliche Zeitangaben
hergestellt. Beispiele mögen dies erläutern:
Im Jahre 1955 erhält Österreich den Staatsvertrag.
(vergangen)
Heute scheint die Sonne. (gegenwärtig)
Morgen fahre ich nach München. (künftig)
Lässt man jegliche
Zeitangaben weg, so zeigt sich die tatsächliche Leistung des formalen Präsens: Im
Osten geht die Sonne auf. Die Präsensform transportiert demgemäß die
Vorstellung eines allgemeinen Verlaufs ohne Zeitbezug.
Ähnlich verhält es
sich auch beim Futur. Oder transportieren die nachstehend genannten Formen
wirklich die Vorstellung zukünftigen Geschehens ?
— Ich
werde ungefähr um 18 Uhr eintreffen.
— Du
wirst sofort still sein !
— Sie
werden wohl gerade frühstücken.
Allen drei Aussagen
ist doch wohl einzig eine Erwartungshaltung gemeinsam, und diese Erwartung muss
sich nicht unbedingt auf Künftiges beziehen.
Die Eindeutschung
des grammatischen Terminus „Futurum exactum“ als „Vorzukunft“ ist vollends
irreführend: Wovor ist das angeblich künftige Geschehen anzusetzen? Einige
Beispiele mögen hier die tatsächliche Leistung veranschaulichen:
Nächste Woche um diese Zeit wird sie es geschafft haben,
wird
sie schon weggefahren sein. (künftig)
Die Vorstellung wird wohl gerade
begonnen haben.
Das Schiff wird wohl eben ausgelaufen
sein. (gegenwärtig)
Sie werden wohl schon vorige Woche
ihren Urlaub angetreten
haben/verreist sein. (vergangen)
Lässt man alle
zusätzlichen Zeitangaben weg, so lässt sich mit etwas Einfühlungsvermögen die
Leistung der grammatischen Form unschwer festhalten.
Denn, was meint
eine Aussage wie „Die Kinder werden sich doch hoffentlich nicht
verlaufen haben“ wirklich ?
Die Leistung dieser
verbalen Konstruktion kann doch wohl nicht anders interpretiert werden, als das
hier die Vorstellung eines erwarteten Vollzugs versprachlicht wird.
Da die Formen des
formalen Perfekts in gleicher Weise gebildet werden (haben oder sein
+ Partizip II, bloß ohne werden), liegt die Vermutung nahe, dass
auch die Verwendung einer perfektiven Form die Vorstellung eines Vollzugs
hervorruft. Und diese Vermutung stellt sich als richtig heraus. Auch hier wird
der Zeitbezug ausschließlich durch zusätzliche Zeitangaben hergestellt:
Gestern hat es geregnet/ist es kalt gewesen.
(vergangen)
Verzeihen Sie, dass ich soeben auf Sie
wie auf einen
Fremden zugegangen bin, ich habe Sie eben
erst erkannt. (gegenwärtig)
Nächste Woche hat sie es geschafft/sind wir hoffentlich schon
wohlbehalten in unserem Urlaubsort angekommen. (künftig)
Somit erweist sich
das „Imperfekt“ als einzig wirklich temporal markierte Zeitform im Deutschen: Ich
ging im Walde so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn....
„Vergangenheit „
wäre hier als Übersetzung angebracht. „Mitvergangenheit“ ist eine mehr als
problematische Eindeutschung: Mit wem oder was soll denn diese Vergangenheit
parallel gehen? Für dieses als einziges tatsächlich zeitlich markiertes Tempus
hat sich in der jüngeren Vergangenheit übrigens die Bezeichnung „Präteritum“
(wörtlich „Vorangegangenes“) durchgesetzt, die dem Tatbestand zweifellos besser
gerecht wird.
Vor diesem
Hintergrund verwundert es auch nicht, dass die Formen des Plusquamperfekts
ebenfalls ohne zusätzliche Zeitangaben die Vorstellung von Vergangenem
erwecken. Sie werden ja mit den präteritalen Formen der Funktionsverben haben
und sein gebildet: Kaum hatte es zu regnen aufgehört, da schien auch
schon wieder die Sonne.
Die beiden Tempora
„Präteritum“ und „Plusquamperfekt“ sind also die einzigen wirklich temporal markierten
Formen. Sie beziehen sich auf Vergangenes und sind somit nicht zufällig als
Tempora des Sich-Erinnems die für Romane und Erzählungen typischen Formen.
Zusammenfassend
lässt sich das bisher Erörterte in folgendem Schema veranschaulichen, wobei am
besten von unterschiedlichen „Stufen der Eingliederung“ der außersprachlichen
Realität in den Zeitbezug gesprochen werden sollte. Das deutsche Verbum
präsentiert sich hiermit in folgenden Formen:
VERLAUFSSTUFE: |
a) allgemeiner Verlauf – realisiert durch das
formale Präsens |
b) vergangener Verlauf – realisiert durch
das formale Präteritum |
|
VOLLZUGSSTUFE: |
a) allgemeiner Vollzug – realisiert durch
das formale Perfekt |
b) vergangener Vollzug – realisiert durch
das formale Plusquamperfekt |
|
ERWARTUNGSSTUFE: |
a) allgemeine Erwartung – realisiert durch
das formale Futur |
b) erwarteter Vollzug – realisiert durch das
formale Futur II (Futurum exactum) |
Das formale
„Perfekt“ versprachlicht also nicht die Vorstellung von Vergangenem, es
transportiert die Vorstellung eines „Vollzugs“.
Es wird unter
Zuhilfenahme zweier unterschiedlicher Funktionsverben gebildet, nämlich mit haben
und mit sein.
Dabei ergeben sich
interessante Einblicke in das System unserer Gegenwartssprache: Die Verwendung
der beiden Funktionsverben ist nämlich beileibe nicht willkürlich. Eine
Unterscheidung zweier grober Kategorien wird sich dabei, wie sich zeigen wird,
als förderlich erweisen, denn jedes Verbum schließt in sich zusätzlich zu
seiner spezifischen lexikalischen Eigenbedeutung Assoziationen hinsichtlich
zeitlicher Erstreckung oder zeitlichen Wandels mit ein.
So kann man
beispielsweise, je nach ausgeprägter Ordnungsliebe, stundenlang suchen,
finden ist eine momentane Erscheinung. Das Verbum altern vermittelt
die Vorstellung eines Wandels, einer Veränderung, das Verbum blühen
hingegen tut dies nicht.
Eine Kategorie von
Verben gibt, so lässt sich nunmehr formulieren, eine „zeitliche Begrenzung“
wieder: Entweder ist der Beginn markiert, wie etwa bei erkranken oder tagen,
oder aber das Ende, wie etwa 'bei finden, treffen, aufhören und anderen
mehr.
Verben dieser Art
meinen eine Handlung oder einen Verlauf, der terminiert ist. Man nennt sie
neuerdmgs „terminative Verben“. Der ältere Terminus „punktuell“ trifft
eigentlich streng genommen nur für wenige Verben wie blitzen zu.
Die Bezeichnung
terminativ verdient daher den Vorzug: Verben wie blitzen sind ja
ebenfalls begrenzt, wenn auch im Unterschied zu anderen dieser Kategorie sowohl
am Anfang als auch am Ende.
Diese
„terminativen“ Verben bilden ihr formales Perfekt mit dem Funktionsverb haben:
X hat etwas gefunden, hat etwas getroffen, hat jemandem die Tür geöffnet, hat
aufgehört zu arbeiten, es hat getagt, es hat geblitzt...
Einzig jene Verben
dieser Kategorie, die die Vorstellung einer kontinuierlichen „räumlichen“ oder
„zeitlichen Veränderung“ zusätzlich zu ihrer spezifischen lexikalischen
Eigenbedeutung in die Gesamtbedeutung mit einbringen, weichen von diesem
Prinzip ab und bilden ihr formales Perfekt mit sein: Jemand ist erkrankt,
ist gealtert, etwas ist zu Boden gefallen, gestürzt...
Jene Verben, die
„keine Begrenzung“ hinsichtlich „zeitlicher Erstreckung“ markieren, nannte man
früher „durative“ Verben. Der charakteristische Unterschied zur oben
vorgestellten Kategorie besteht jedoch nicht in Hinblick auf Dauer versus nicht
dauerhafter Erscheinung, sondern hinsichtlich ihrer Eigenschaft, keine
Terminiertheit von Beginn oder Ende zu versprachlichen. Man nennt sie daher
besser „aterminative Verben.“
Auch diese Verben
bilden die Vollzugsstufe vornehmlich mit dem Funktionsverb haben. Ebenso
wie bei den terminativen Verben heißt es: X hat etwas gewaschen, hat den
Wagen in die Garage gefahren, hat jemanden gesucht oder gesehen, hat jemandem
geholfen, gedient oder gehorcht, jemand hat geschlafen oder getanzt, es hat
geregnet, gedonnert, geschneit.
Und auch hier wird
die Vollzugsstufe dann mit sein gebildet, wenn das betreffende Verbum
die Vorstellung einer „zeitlich-räumlichen Veränderung“ versprachlicht:
Wir sind
gegangen, gefahren, gestiegen
und so weiter.
Doch anders als bei
terminativen Verben, wo die lexikalische Eigenbedeutung die Betonung der
Eingangs- oder Endphase unwiderruflich festgelegt hat, ist es hier durchaus
möglich, ein von vornherein nicht terminiertes Verb gewissermaßen nachträglich
zu markieren. Vor diesem Hintergrund wird das Nebeneinander von Bildungen wie Wir
haben die ganze Nacht getanzt/Wir sind aus der Reihe getanzt durchaus
verständlich.
Ein und dieselbe
Erscheinung wird hier unter unterschiedlichem „Aspekt“ betrachtet:
Haben versprachlicht den „imperfektiven“ (zeitlich
theoretisch nicht begrenzten), sein den „perfektiven“ (zeitlich
begrenzten) Aspekt, genau genommen eigentlich einen Zustand, und so ist es
nicht verwunderlich, dass in diesen Fällen beinahe die selbe „ist-Prädikation“
vorliegt wie in den Fügungen Der Baum ist grün, der Zaun ist gestrichen.
Es liegt hier ja offensichtlich eine dem so genannten Zustandspassiv
vergleichbare Vorstellung zugrunde.
Wird bei einem an
sich aterminativen Verbum mittels Präfixen eine Phasenabstufung vorgenommen, so
ist die Vollzugsstufe im Aktiv mit dem Zustandspassiv des formalen Präsens
identisch: Die Kinder sind eingeschlafen. Die Rose ist erblüht.
Die Identität
besteht jedoch nur auf formaler Ebene! Solche Sätze sind inhaltlich doppeldeutig.
Sie müssen, je nachdem, ob sie in einen präsentischen oder perfektiven Text
eingebettet sind, unterschiedlich interpretiert werden: entweder als Perfekt
aktiv oder als präsentische Form des Zustandspassivs.
Bei den beiden
gegebenen Beispielen ist es sehr wohl möglich, von eingeschlafe-nen Kindern
oder von einer erblühten Rose zu sprechen. Die Verwendung des Partizip
II ist jedoch nicht immer möglich: Ein Satz wie X ist geschwommen oder gesprungen
ist nicht transformierbar in der geschwommene oder gesprungene X.
Erst dann, wenn
zusätzlich eine Zielangabe gegeben ist, wird die Transformation möglich: Der
über den See geschwommene oder ins Wasser gesprungene X sind
durchaus grammatisch korrekte Syntagmen.
Das Funktionsverb sein
wird also nur dann verwendet, wenn ein „aterminatives Verb“ die Vorstellung
einer „Veränderung“ vermittelt (wir sind gegangen, gestiegen, geschwommen),
aber auch dann, wenn bei einem an sich in temporaler Hinsicht nicht begrenzten
Verb „Beginn“ oder „Ende markiert ist“ (wir sind eingeschlafen, die Rose ist
erblüht oder verblüht, die Paare sind aus dem Saal getanzt). In
allen anderen Fällen wird das formale Perfekt mit haben gebildet.
Vergleicht man nun
Äußerungen wie: Er hat den Wagen in die Garage gefahren und Wir sind
nach München gefahren, so wird die Herkunft dieser Konstruktion deutlich: Haben
war nicht immer bloß Funktionsverb. Im ältesten überlieferten Deutsch (8. - 11.
Jahrhundert), in althochdeutscher Zeit also, war es noch nahezu ausschließlich
Vollverb in der Bedeutung „halten, besitzen, über etwas verfügen“. Ich haben
fuoz gibrochan(an) bedeutete demnach „ich habe einen gebrochenen Fuß“. Doch
sind bereits damals gelegentlich Fügungen wie Ih haben mir fuoz gibrochan
zu registrieren, wobei mir ursprünglich ein nicht obligatorischer
Dativus commodi (im gegebenen Beispiel besser „incommodi“) gewesen sein dürfte.
Daraus wird
verständlich, dass alle Verben, die ein Akkusativobjekt fordern, ihr formales
Perfekt ausnahmslos mit haben bilden, ohne Rücksicht darauf, ob sie
terminativ oder aterminativ sind und welcher Aspekt jeweils vorliegt.
Der Vergleich der
beiden Aussagen Er hat den Wagen in die Garage gefahren mit Wir sind
nach München gefahren lässt jedoch noch eine weitere Erscheinung erkennen:
Im ersten Satz ist
die Beteiligung des Subjekts am Geschehen unmittelbar evident. Im zweiten Satz
ist das Subjekt nicht tätig, also kein Agens.
Haben meint demnach einerseits „imperfektiven“
Aspekt, andererseits „Beteiligung des Subjekts“ am Geschehen.
Äußerungen wie es
hat geregnet, geschneit, geblitzt ändern daran nichts, denn seit Immanuel
Kant wissen wir, dass wir außerstande sind, nicht kausal zu denken.
Es steht demgemäß nicht nur aus Systemgründen,
nämlich um zu gewährleisten, dass das finite Verb im Aussagesatz an funktional
zweiter Stelle steht, sondern wohl auch für eine verursachende Kraft. Es
(= das Numen, göttliches Prinzip ohne persönlichen Gestaltcharakter) lässt
regnen (vgl. die lateinische Konstruktion Jupiter pluit), doch das nur
nebenbei.
Sein hingegen meint einerseits „perfektiven“
Aspekt, andererseits „Nichtbeteiligung“ des grammatischen Subjekts am
Geschehen.
Haben ist also „imperfektiv und täterbezogen“, sein
„perfektiv und täterabgewandt“.
Die beiden
Funktionen stehen somit jeweils nicht auf einer Ebene. Und so kommt es vor,
dass gelegentlich regionale Unterschiede bei der Bildung der Vollzugsstufe zu
verzeichnen sind.
So bilden die
Verben stehen, sitzen und liegen im Oberdeutschen, im Süden des
deutschen Sprachraums, die Vollzugsstufe mit sein: Jemand oder etwas ist
gestanden, gesessen, gelegen. Im Mittel- und Niederdeutschen, also in
Deutschlands Mitte und in Deutschlands Norden hat man irgendwo gestanden,
gesessen und gelegen. Im Süden steht demnach die Nichtbeteiligung
des Subjekts im Vordergrund (man tut ja nichts, wenn man steht, sitzt oder
liegt), weiter nördlich ist die Vorstellung der theoretischen zeitlichen
Ausdehnung (ohne Markierung von Beginn oder Ende) verantwortlich für die
abweichende Bildung.
Zusammenfassend
lässt sich somit festhalten:
– Verben, die ein
obligatorisches Akkusativobjekt fordern, bilden die Vollzugsstufe ausnahmslos
mit haben.
– Für Verben mit einem anderen als einem
Akkusativobjekt gilt folgende Regel: Das Funktionsverb sein findet bei
der Bildung der Vollzugsstufe überall dort Verwendung, wo das verbale Lexem die
Vorstellung einer räumlich - zeitlichen Veränderung erweckt oder in Fällen, wo
die Eingangs- oder Beginnphase des Geschehens markiert ist.
– In allen anderen
Fällen wird die Vollzugsstufe mit haben gebildet.
So heißt es
einheitlich: Ich habe dich gesehen, ich habe mich gewaschen, ich habe mir
den Fuß gebrochen, ich habe den Wagen in die Garage gefahren, ohne
Rücksicht darauf, ob bei der Aussage eine Änderung stattfindet oder Beginn bzw.
Ende des Geschehens markiert ist.
Es heißt auch Ich
habe jemandem geholfen, gehorcht, gedient, ich habe gewacht, geschlafen,
getanzt, an jemanden gedacht, über etwas gestaunt, die Rose hat geblüht und
so fort.
Aber es heißt Ich
bin jemandem gefolgt, nachgegangen, bin über etwas erstaunt, bin eingeschlafen,
erkrankt, gealtert, die Rose ist erblüht,...
Einzig und allein
zwei Verben entziehen sich diesem Schema, nämlich sein und bleiben.
Beide sind aterminativ und bilden dennoch die Vollzugsstufe im gesamten
deutschsprachigen Raum und in der überregionalen Standardsprache ohne Ausnahme
mit dem Funktionsverb sein.
Eine
Subjektbeteiligung in Fügungen wie ich bin gewesen, geblieben ist
allerdings in keiner wie immer gearteten Weise vorstellbar. Vielleicht ist
dieser Umstand für die Abweichung von der Norm verantwortlich. Es sind dies die
einzigen Ausnahmen von der hier formulierten Regel.