Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 33: Tagebuch von Julie Söllner, 18. März 1915, Wien

NL 52 Tagebuch Julie Soellner 1915 03 18Die Wienerin Julie Söllner (geb. Karplus, geb. 1874) hatte die Ausbildung zur Lehrerin absolviert. Sie war mit einem Rechtsanwalt verheiratet hatte drei Kinder. Im März 1915 vermerkte sie, das „Bedürfnis“ zu haben, Aufzeichnungen über die aktuelle „entsetzliche Zeit“ zu machen. Die Erinnerungen wurden an nur drei Tagen im März und April 1915 verfasst und enthalten neben der Schilderng der aktuellen Lebensverhältnisse in der bürgerlichen Wiener Umgebung der Schreiberin auch kommentierte, retrospektive Passagen auf die politischen und kriegerischen Ereignisse seit Sommer 1914.

18. März 1915
Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Bedürfnis mir selbst eine Erinnerung an unsere große, an unsere merkwürdige, an unsere entsetzliche Zeit zu schaffen. Ich war eben 40 Jahre alt geworden und trotz aller Wirren, trotz des ewigen Wetterleuchtens an unserem politischen Himmels, ja selbst nach der Ermordung unseres Thronfolgers – er hatte, aber auch den Herzen der meisten seiner künftigen Unterthanen sehr fern gestanden – dachte ich nicht im entferntesten daran, daß Krieg sein könne. Ja, den Balkankrieg mit allen seinen Auswüchsen hatten wir ja erst erlebt, aber bei uns konnte doch nicht Krieg sein; mir wäre es ja vom Herzen recht gewesen, wenn wir die Serbenbande für ihre Frechheit, ihren Übermut und ihre Niedertracht in und anstatt ihres Landes „gezüchtigt“ hätten. So sollte es aber leider nicht kommen, das große Russland hat Parthei für Serbien genommen und da wir die unerträglichen politischen Zustände nicht mehr ertragen konnten, erfolgte die Kriegserklärung an Serbien.

Der Stein war in’s Rollen gekommen, der Funke in das Pulverfass Europa geworfen. Deutschland trat an unsere Seite und all die anderen fielen über uns her. Uns mit unserer Schwerfälligkeit und Ehrlichkeit hätten sie ja am Ende noch in Ruhe gelassen, aber daß das junge blühende Deutschland in jeder Beziehung vorwärtsschritt, daß es nicht nur bald alle anderen eingeholt, sondern vermutlich auch überflügelt hätte, ja das band das stolze, freie Albion [ältere Bezeichnung für Großbritannien] an das russische, geknechtete Zarenreich und an das revanchesüchtige Frankreich. Von allen Statten ist auch England (auch Japan ist sehr verhaßt, das sich von den Deutschen in allem hat belehren lassen, um es immer erfolgreicher zu bekämpfen) am verhaßtesten; die Kaltblütigkeit und Rohheit mit der es die anderen sich verbluten läßt, macht es uns widerwärtig. Großer Sympathien erfreut sich natürlich auch unser südlicher Verbündeter – der Dritte in der Tripelallianz – nicht; wir haben ihn geschützt bei seinen afrikanischen Unternehmungen, haben den „verfluchten Katzelmachern“ [Italien] Zeit gegeben sich finanziell zu kräftigten und jetzt erkaufen wir – so heißt es – die Neutralität dieses guten Freundes durch ein Stück Tirol, 7 Monate ist er auf der Lauer gelegen und jetzt scheint er ja wirklich etwas ergattert zu haben und wir müssen alles tun, damit nicht viele Hunderttausende Soldaten an der italienischen Grenze stehen müssen. Pfui über diese Italiener!

Wir selbst – das heißt ich mit meiner engsten Familie – sind bisher verhältnismäßig wenig arg vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden. Möglich ist ja, daß das Gesetz geendigt geändert und auch Toni [Ehemann der Schreiberin], der im 50 Jahre steht, noch einberufen wird. Wir mußten, weil Toni es so wollte, einen Landaufenthalt verfrüht am 4. August abbrechen; von Gemütlichkeit war ja nach, dem Ultimatum und der Kriegserklärung an Serbien nichts mehr am Land zu spüren. Es kam die allgemeine Mobilisierung und wie im Sturm ging es durch das Land, all die jungen, kräftigen Menschen wurden von ihrer ruhigen Feldarbeit weggerissen, auch die Pferde wurden registriert und nach wenigen Tagen waren die kleinen Ortschaften leer. Es war nicht immer ein leichter Abschied von zu Hause; der Knecht bei uns im Hause hing sich seine Büchse um und zog leichten Herzens davon; der Bauer aber hat eine junge, hochschwangere Frau und ein kleines Kind, der konnte vor Erregung beim Abschied kein Wort herausbringen und ob er wohl ja wiederkehrt, wer weiß; wir haben nun gehört, daß er verwundet worden ist. Dann sah man ja die Militärzüge mit der jungen, einrückenden Mannschaft, die in froher Weinlaune dahinfuhr für Kaiser und Vaterland zu streiten.

Dann kamen wir nach Wien. Hier hatte sich die Hochflut der Begeisterung eben gelegt, man sah nicht mehr die frohe, siegessichere Jugend, die bereit war für das Vaterland zu sterben; die Aufzüge und Begeisterungskundgebungen waren am 5. August vorbei. Aber ein Treiben schüttelte die ganze Stadt, man konnte kaum von einer Zeitung auf die andere warten, immer hoffte man, dass bald eine erlösende befreiende Nachricht kommen werde. Sie kam nicht. Man war nervös, in rasendem Siegeslauf durcheilten die Deutschen Belgien und Nordfrankreich, ja und wir mußten die Russen aufhalten, damit die Dampfwalze sich nicht auf Berlin und Wien stürze. Jeder, der aus seinen vier Wänden heraustrat, wurde von dem allgemeinen Wirbel mitgerissen, die ersten Abende gingen wir in’s Caféhaus, um recht spät abends, die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz zu hören, es war nervenaufreibend und ich habe von einer mir bekannten Dame den Ausspruch gehört, „es ist herrlich, es ist spannend.“ Tagsüber nahm ich mir vor zu Hause zu bleiben, wenn aber dann am Abend die Extraausgaben ausgerufen wurden, wenn man dachte die Entscheidung müsse bald fallen, dann litt es mich auch nicht zu Hause, ich mußte hören, ich mußte sehen.

Es kamen die Tage von Limanowa[-Lapanow, Teil der so genannten Karpatenschlacht Anfang Dezember 1914 in Westgalizien], es kamen sichere und verbürgte Nachrichten, ein Heer von 125,000 Russen sei von uns gefangen worden, es kamen die furchtbaren Enttäuschungen, die Übergabe von Lemberg [Besetzung von Lemberg/Lwiw durch Russland]. Man wurde müde, man sah, daß lange Zeit vergehen werde, ehe eine Entscheidung fallen könne. Man wurde ruhiger, ja man fing an sich an den Kriegszustand zu gewöhnen.

Es kam die Zeit der fieberhaften Wohltätigkeitsgründungen „schwarz-gelbes Kreuz“, Gold gab ich für Eisen, Kinderhorte, galizische Flüchtlingsheime Kälteschutz; jeder wollte und mußte geben soviel er konnte, für alles hatte man auf einmal Verwendung; die Frauen und Mädchen, die sich zu Hause für entbehrlich hielten, widmeten sich der Krankenpflege, der Kinderpflege und Erziehung in den Horten etc.; ich habe von meinem Wenigen etwas hergegeben, habe fleißig für unsere armen Soldaten gestrickt und bin zu Hause bei den meinen geblieben, die ja dort das erste Anrecht an mich haben. Auch diese Bewegungen, Beschäftigungen, Zerstreuungen kamen in ruhigeres, geordnetes Fahrwasser; jeder gab gern, was er konnte.

Bei den Deutschen trat nach dem rasenden Tempo der ersten Wochen auf der Westfront Stillstand, sogar Rückschlag ein, mühsam behaupteten sie sich dort, auf den von ihnen eroberten Stellungen; im Osten aber haben sie Dank der genialen Führung Hindenburgs gegen die russische Übermacht sehr viele Erfolge. Bei uns hoffte man bis Weihnachten mit Serbien fertig zu sein, die Aussichten waren gut, [Oskar] Potiorek, der Führer der südlichen Armee [Oberkommandierender der Balkanstreitkräfte der Doppelmonarchie], wurde in den Himmel erhoben, da kam das Verhängnis er wollte zu schnell vorwärts, namenlose Unordnung entstand, alles mußte aufgeben werden und dazu eine Unzahl Soldaten als Kriegsgefangene zurückgelassen werden (die Angabe schwankte zwischen 25 und 60,000 Mann). Es war der größte Mißerfolg, den bis dahin eine Armee im gegenwärtigen Kriege erlitten hatte, so meldeten die italienischen Blätter.

Inzwischen ging hier in Wien das Leben seinen gewohnten Gang, die Preise der Lebensmittel waren höher aber eigentlich hatte die wohlhabende Bevölkerung nichts, die minderbemittelte Dank der Unterstützungen durch den Staat für die Familien der Eingerückten und der privaten Wohltätigkeit für die anderen fast nichts zu leiden. Man aß und trank wie sonst, da kamen langsam die Berichte aus Deutschland, daß die Regierung zur Sicherung der Ernährung der Bevölkerung – England hatte inzwischen den Grundsatz aufgestellt, daß es Deutschland, wenn es ihm anders nicht beikomme, aushungern werden, und es der /der/ neutralen Schiffahrt unmöglich gemacht, die Deutschen mit Nahrungsmitteln zu versehen – die Mehlvorräthe mit größter Sparsamkeit behandelt sehen müssen und darum Brotkarten ausgegeben werden würden, damit keine Verschwendung Platz greifen können und jeder nur ein bestimmtes Quantum Brot und Mehl zugewiesen bekommen könne; kurz daß die Regierung alle Getreidevorräthe beschlagnahme.

Da wurde es auch bei uns anders. Man konnte sich das gute Weizenmehl nur schwer verschaffen, man fing an mit Gerstenmehl, Maismehl zu kochen; aber erst viel zu spät, fing auch unsere Regierung an, an die Versorgung des Landes mit dem nötigen Getreide zu denken; Ungarn behandelte uns schlecht, es sicherte sich seinen Gebrauch und wir sollten nur in zweiter Linie in Betracht kommen. Mais wollte es uns genügend liefern. Inzwischen hatte die Regierung bemerkt, daß wenig Mehl vorhanden sei, die Mehlvorräthe wurden aufgenommen und bald mußte man sehen, daß wir bald größtenteils Maisbrot werden essen müssen, es kam zu Störungen in der Brotversorgung der Stadt; ich selbst ging – ich hätte nicht müssen, da ich genügend Brot zu Hause hatte – in 6 verschiedene, große Bäckergeschäfte in der inneren Stadt und konnte nichts Brotähnliches auftreiben nur ein Stückchen […]brot und in den Vorstädten gab es gestürmte Bäckerläden und Wagen, kurz es sah recht bedrohlich aus. Das hat sich wieder gegeben, man bekommt Brot, wenn auch zu außergewöhnlichen Preisen. In wenigen Tagen werden auch Brotkarten (mit Mehlkarten combiniert) ausgegeben werden. Wer Mehlvorräthe hat bekommt nur ¾ Karten und muß seinen anderen Gebrauch aus seinen Vorräten decken, die immer wieder anzugeben und zu controlieren sind. Es wird gewiß bei der geringen Disciplin, die bei uns herrscht, schwer sein das durchzuführen. Ich selbst habe Vorräte und hoffe, daß es uns gelingen wird, ohne allzu viel Entbehrungen und Kosten über diese Zeit zu kommen.

Aber, das spielt ja nur eine geringe Rolle in so einer Zeit. In so einer furchtbaren Zeit. Wo der Mord an der Tagesordnung ist, wo schon unsere Kinder kein höheres Glück sich erträumen können, als daß recht viele Feinde getötet werden. Sie werden vergiftet und verdorben und doch auch ganz anders patriotisch erzogen als wir, die […], vielleicht werden sie stärker aus dieser Zeit hervorgehen – vielleicht werden sie sich stolz an die Zeit erinnern, wo sie keine größere Freude gekannt haben, als dem Vaterland, den Soldaten und den verwundeten Kriegern ihre paar ersparten Heller zu geben, wo sie gern für sie gearbeitet haben – vielleicht aber werden sie auch mit Wehmut an diese Zeit zurückdenken, wenn der Erfolg für uns dort ausbleiben sollte, was ja, wenn man an die enorme Übermacht der Feinde denkt, auch kommen kann.

Diese Woche war wieder eine traurige, unsere große Festung Przemysl ist am 22./III. gefallen, der Hunger zwang die Verteidiger die Verteidigung aufzugeben; über 100,000 Menschen gerieten in russische Gefangenschaft.

Sammlung Frauennachlässe NL 52
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 33, Tagebuch von Julie Söllner, 18. März 1914, SFN NL 52, unter: URL