Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 98: Brief von Georg M. an seine Verlobte in Wien, 6. März 1917, Astrachan/RUS

1917 03 06Die 17 erhaltenen Schreiben der Kriegsgefangenenpost, die der Friseur Georg M. zwischen Juni 1916 und Oktober 1917 aus Moskau und Astrachan an der Wolga in Russland an seine Verlobte Juli G. u.a. in Wien gesendet hat, wurden 2006 auf einem Wiener Flohmarkt gefunden. 15 der Schreiben sind Postkarten, zwei sind ausführliche Briefe. In einem dieser Poststück von März 1917 beschrieb der Wiener sehr detailliert die Umstände seiner (Monate zurückliegenden) Verwundung. Dabei schildert er, dass ihm von der ‚eigenen‘ „Sanitäts-Abteilung“ nicht geholfen worden wäre. Gerettet wurde er von einer ortsansässigen jungen Frau, einem polnischen Sanitäter, russischen Sanitäter und verschiedenen Dorfbewohner/innen.

Astrachan, 6. III. 1917 53.
Mein liebes Julei!
Nachdem Dich Peter A. [ein Soldat aus der Einheit des Schreibers] besuchte, nehme ich an, dass er Dir unser ganzes Beisammensein im Felde bis zu meiner Verwundung erzählte und dieser Brief soll nun bezwecken, einen kurzen aber klaren Bericht zu geben über die Zeit von dem Momente an, als ich von meinem Baon. [Battalion] verlassen liegen blieb, bis zu meiner Unterbringung im Spitale in Astrachan. Dies wird mir zwar nicht leicht fallen, weil es mich, wenn ich auch nur daran denke, zu viel in Aufregung versetzt, aber ich werde mir Mühe geben mich zu beherrschen, damit mir nichts unüberlegtes herausrutscht, da ich doch Interesse daran habe, dass Du diesen Brief auch erhältst. Als ich von drei Schüssen gleichzeitig getroffen zusammenfiel, war ich bestrebt meine Verwundeten Stellen frei zu bekommen um mich zu verbinden. Eine Wunde verband ich mit dem Verbandpaket, das jeder bei uns mit hat, da war es ½ 4h nachm., die zweite Wunde verband ich mit einem Sacktuch, die dritte Wunde mit einem Fusslappen. Dann wurd ich bewusstlos. Als ich die Augen wieder öffnete und nach der Uhr sah war es ½ 5h nachm. Ich sah meine Rüstung nach. Es fehlte mir mein Brotsack samt Brot, sonst nichts. Nun wusste ich nicht, war die russische Schwarmlinie über mich hinweg weiter vorgegangen oder nicht. (Doch die späteren Erlebnisse belehrten mich, dass die Russen nur bis zu mir gekommen waren und dann wieder zurückgingen.) Ich versuchte nun mich aufzurichten, doch alle Mühe war vergeblich. Ich nahm meine Rüstung zusammen und probierte zu kriechen. Ging nicht, war zu schwer. Nun nahm ich nur das aller Notwendigste, und zwar die Decke, das Essgeschirr 2 Konserven, Zwieback, Hemd, Hose, Handtuch, 2 Sacktücher, schnallte mir das Ganze auf den Rücken, stemmte die Hände auf die Erde und zog den Körper nach. So arbeitete ich mich durch drei Stunden bis zur nächsten Ortschaft, Smordva, mit Namen, hin. (Von Smordva bis zu der Stelle wo ich verwundet wurde, ist es zu gewöhnlichen Umständen nur 15 Minuten zu marschieren.) Nun war es aber mit meinen Kräften zu Ende, ich blieb liegen. Ein zirka 16-18jähriges Fräulein brachte mir saure Milch. Es war eine Ortsbewohnerin und konnte auch etwas deutsch. Ich bat sie, mir einen Wagen, oder ein Pferd oder irgend etwas zu verschaffen, das mich 5 bis 8 Kilometer weiter nach Rückwärts befördern könnte und bot dafür meine ganze Barschaft, 33 Kronen 60 Heller, und obendrein noch meine Uhr, doch leider vergeblich, war nichts aufzutreiben. Doch, nach kurzer Zeit, es war mittlerweile ½ 9h abends geworden, zeigte sich von Weitem Militär. Es waren unsere Leute und zwar waren es mehrere Halbkompagnien von /Lir./ 15. Nun kannst Du Dir denken, dass meine Freude unermesslich war. Als sie näher kamen, sah ich, dass sie auch mehrere, ich glaube 6 bis 7, Sanitäts-Abteilungen mit der entsprechenden Anzahl Personal mit hatten, auch hatten sie keine Verwundeten bei sich. Als sie bei mir waren frug man mich zwar sehr „mitleidig“ wann, wo und wie ich verwundet wurde, aber natürlich meine sofort angebrachte Bitte, mich doch mitzunehmen, schlug man mir rundweg ab, mit dem Troste, „ich solle nur beruhigt sein und keine Angst haben, die Russen tun mir ja doch nichts.“ – (Zu erwähnen vergas ich noch, das bei den vorerwähnten Sanitätsabteilungen auch ein Arzt war.) Dann lagerten sich die Leute von /Lir./ 15 in der Nähe bei einem Brunnen, assen und versorgten sich mit Wasser. Nur derjenige, der verwundet war, weiss, wie man in diesem Zustande von Durst gequält wird. Aber nicht einmal mich zu verbinden fand man für nötig. Denn, als sich diese Leute mit Wasser versorgt hatten, zogen sie ab. – Ich will zu den ganzen nicht mehr sagen, als, wenn ich vor den Russen Angst gehabt hätte, wäre nicht ich, Peter A. und noch einige, diejenigen gewesen, die am längsten dem Feuer der Russen stand gehalten haben. Nun gut. Ich musste eben liegen bleiben. Nach zirka ¼ Stunde kam ein österr. Sanitäts-Soldat direkt auf mich zu. Wahrscheinlich wurde er von dem vorerwähnten Fräulein auf mich aufmerksam gemacht. Ich weiss es nicht, denn ich konnte mich mit ihm nicht verständigen, ich glaube es war ein Pole. Er lud mich auf seinen Rücken und trug mich eine Strecke weit in ein Haus, bettete mich hier auf Stroh, verband mich, brachte mir etwas zu Essen, etwas Wein und drei grosse Flaschen Mineralwasser, deckte mich zu, stellte neben mir eine Kerze und Zündhölzchen, verabschiedete sich und gieng. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Das war am 10. Juni. Hier lag ich bis 13. Juni mittags. Am 11. um 5h kam die erste russische Patrouille, es war eine Offizierspatrouille. Der Offizier sprach auch deutsch. Er frug mich nach meiner Verwundung, sah sich alles an, frug mich nach Appetit und Durst, gab mir eine Handvoll Zigaretten, sagte er werde mir Essen und trinken senden und auch jemanden zum Verbinden, im Übrigen möge ich nur ruhig liegen bleiben, es werde schon gesorgt werden. Alles hier im Detail anzuführen würde hier viel zu weit führen, Julei, kurz gesagt, von nun an kam täglich ein anderer Sanitäts-Unteroffizier „Feldscher“ bei den Russen genannt, der mich verband, es kamen untereinander Kosaken-Patroillen und solche von regulären Truppen, [unkenntlich durch Zensur] die andern Soldaten dagegen gaben mir was sie hatten oder geben konnten. Sie überboten sich gegenseitig. Vom ersten Momente an brachten mir die Zivilbewohner der Ortschaft täglich zu Essen und zu trinken, am Morgen Tee und Brot, mittags Suppe, Fleisch oder Mehlspeise, abends Tee und Brot, das schon erwähnte deutsche Fräulein kam immer vormittags und nachmittags mit ihrem Bruder und brachte mir saure Milch und irgend etwas zu Essen. Eine ältere Frau kam täglich mit einem Kübel Wasser um mir damit die Wunden zu kühlen. Sie handelte damit im alten Aberglauben, aber ich ließ sie ruhig gewähren, da sie doch nichts verderben konnte und sie sichtlich Freude daran hatte, mir etwas Gutes zu tun. – Nun sie es für heute genug, Julei. Fortsetzung folgt wahrscheinlich nächste Woche. Bin gesund und wohlauf, hoffe gerne dasselbe von Dir und unsern Lieben. – Herzlichste Grüsse an Mutter alle Verwandten und Bekannten. Sei innigst geküsst von Deinem
Schurlei

Sammlung Frauennachlässe NL 74
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 98, Brief von Georg M. an seine Verlobte Julie M., 6. März 1917, SFN NL 74, unter: URL