Porträt des Deutschnationalen als junger Mann

Im April 1884 war Hermann Bahr war 20 Jahre alt und hatte bereits begonnen, sich als Krawallbruder und auch ein wenig als Schriftsteller einen Namen zu machen. Die erfolgreichere Schriftstellerin ist zur gleichen Zeit die um ein gutes Jahr jüngere Marie Eugenie delle Grazie. In der "Deutschen Zeitung", zu dem Zeitpunkt offen deutschnational, veröffentlicht sie am 12. April ein längeres Gedicht - 17 Strophen und über 100 Verse. Bahr nimmt dieses zum Anlass, ihr einen Brief zu senden. Ein Anbandelungsversuch? Vielleicht. In jedem Fall ein wunderschönes Dokument dafür, wie schon der frühe Bahr sein Selbstbild mit Großsprecherei aufbauscht und dem es nicht gelingt, sein Ego durch selbstironischen Humor zu kaschieren. (Zur Qualität des Gedichts von delle Grazie mag die Stilprobe reichen, die Bahr zitiert. Es handelt sich um die 13. Strophe.) Der in Linz und Wien Alsergrund gestempelte Briefumschlag:
Fräulein Maria Eugenie della [!] Grazie Wien IX Roßauerlände 17
Der Brief:
Linz, 13.4.84 Verehrtes Fräulein! Sie werden sich wahrscheinlich baß verwundern, vielleicht ärgerlich die Nase rümpfen, etwa gar zürnen, wenn Sie diesen Brief von fremder Hand erhalten. Alleine, so schmerzlich mir dies wäre, da hilft Ihnen und mir nichts: ihr herrliches Osterlied – das heilt! Eines nach dem anderen, lehrt mein Aristoteles. Also schön: erstens, zweitens, drittens in logischer Entwicklung und keine sturmdrängerische Überfüßlung. Als erstens erlaube ich mir, mich Ihnen geziemend vorzustellen. Ich heiße Erich Hermann Bahr, bin Jurist, wurd im Vorjahr auf dem Wagnercommerse berüchtigten Angedenkens wegen meiner Rede noch berüchtigteren Angedenkens für immer von der Wiener Universität relegiert, bin dann die [!] kreuz und quer durch unser liebes Österreich gebummelt, habe nebenbei gestohlene Gedanken in gestohlener Form „schriftstellerisch verwertet,“ wie mich denn auch der Kürschner‘sche Literaturkalender als Erzeuger einer nichtssagenden und merkwürdigen einaktigen Bluette nennt, lebe | nun seit ein paar Wochen wieder in meiner teueren Heimatstadt und gedenke demnächst, mein Österreich für längere Zeit, vielleicht für immer zu verlassen. Ich bin also ein ganz gewöhnlicher, uninteressanter und unbedeutend Christuszöglinge, fast so nichtssagend und nichtswürdig wie besagte Bluette. Sie können mein Schreiben also ruhig in den Papierkorb werfen, wenn sie es gelesen. Aber lesen mögen Sie es! Darum alleine bitte ich Sie, denn meinen herzlichsten, wärmsten und tiefinnerlichsten Dank möchte ich Ihnen nur schenken, mein teueres Fräulein. Ich kenne mehrere ihrer Dichtungen: sie haben mich alle ergriffen, erwärmt, entzückt, doch keines von allen hat mich so tief drinnen an der Chargenswurzel gepackt wie ihr Osterlied, das die heutige „Deutsche Zeitung“ gebracht. Ich sinne und sinne. Ich bin doch sonst eigentlich ein geschworener Verächter lyrischer Kost. Zur besonderem der halbpolitischen. Ich bin ganz ein ungehobelter, | ungalanter und ungebildeten Spötter jeglicher weiblichen Poësie. Und baß! Seit Jahren hat mich nichts so ergriffen, so im Innersten aufgewirbelt, woltätig begeistert und doch süß mich besänftigt zugleich wie dieses schmucklose, herrliche Lied! Noch jetzt, wo die Stadt schon lange im osterrauschschweren Schlummer ächzt und ich einsam zum sternbesäten Zinn mal aufstarre, umklingts mich wie süßer Engelschor:
„Und die Wahrheit … sie wird herrschen! Siegen wird der deutsche Mut, Wenn auch auf dem Grab der Freiheit Noch der Stein der Zwietracht ruht; Wenn auch Feinde sie bewachen, Auch der Haß ihr Urteil spricht – Menschenzungen kann er fesseln, die Gedanken aber nicht.“ –
Mein Fräulein, ich danke Ihnen! Nun, Papierkorb, tu, was deines Amtes! Mit deutschem Gruß Ihr Erich Hermann Bahr
Quellen: Marie Eugenie delle Grazie: Ostern 1884. In: Deutsche Zeitung, 1884 #4411, Morgenausgabe, 1-2.
Der Brief ist mit freundlicher Erlaubnis der Wienbibliothek im Rathaus abgedruckt, Signatur: I.N. 89416