REZENSIONEN/BUCHBESPRECHUNGEN


Rezensiertes Buch: Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard: Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf, 2. korr. Aufl. (Weinheim/München 1994).

Böhnisch/Winter wollen in ihrer Publikation eine Möglichkeit des "anderen Mannseins" aufzeigen.

Das Buch ist in zwölf Kapitel unterteilt, die eine enorme thematische Bandbreite an psychischen, soziologischen und pädagogischen Aspekte über das Mannsein bereit halten.

Im ersten Kapitel wird bereits auf die Grundproblematik hingewiesen: Der Mann und sein Machtstreben sind, nicht zuletzt aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Industriegesellschaft, externalisiert (nach außen gerichtet). Die Autoren greifen auf Magnus Hirschfeld zurück, wenn sie von der "Furcht des Mannes vor der Frau" sprechen, die auf der unerklärlichen Verbindung der Frau zur Natur beruht. In der Folge wird darauf eingegangen, dass es Männern aufgrund von Stereotypen (z. B. "Männer sind rational") verwehrt ist, emotional zu sein.

Zentral für dieses Buch ist das Modell der "Autonomie" von Arno Gruen, dem folgende Definition zugrunde liegt: "Autonomie ist derjenige Zustand der Integration, in dem ein Mensch in voller Übereinstimmung mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen ist." (S. 23). Der Mann, der diesen Zustand nicht erreicht, befindet sich in einem "Dilemma der Autonomie".

Die Autoren stellen fest, dass sich männliche Herrschaft nicht aus ökonomischer und politischer Herrschaft, sondern aus ihrer kulturgeschichtlichen hegemonialen Selbstverständlichkeit legitimiert, womit sich auch unterdrückte Männer als Herrscher über Frauen oder jüngere Männer fühlen können (S. 35).

 

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit traditionellen entwicklungspsychologischen Zugängen. Das kognitionspsychologische Entwicklungsmodell hält folgende Ansichten bereit: Die Männer assoziieren bereits das Stereotyp männlicher Überlegenheit bevor sie Sicherheit über ihr eigenes Geschlecht gefunden haben. Das psychoanalytische Modell basiert auf dem Freudschen Sozialisationsmodell der Sexualentwicklung, hier steht die Trennungserfahrung des Jungen, der sich von der Mutter lösen muss und den Vater als Konkurrenten sieht, im Vordergrund. Auch der Neid der Männer auf die Gebär- und Stillfähigkeit der Frau, ein zentrales Thema des Buches, findet Erwähnung.

 

Kapitel drei beschäftigt sich mit dem sozialisatorischen Dilemma der männlichen Autonomie in der Kindheit. Das wesentliche Problem hierbei ist, dass der Junge in einem weiblichen Alltag bei gleichzeitiger Abwesenheit des Vaters aufwächst. Da kaum männliche Vorbilder vorhanden sind, bestimmt nur noch die Mutter die Entwicklung zum Mann. Auch nach innen gerichtete gleichgeschlechtliche Beziehungen werden von Jungen/Männern abgewertet.

 

Der vierte Abschnitt geht auf die Suche nach der Männlichkeit. Essentiell ist hier, dass die Jugend als Zeit der Loslösung von der Familie, und mit der Tendenz zur Integration in eine Gleichaltrigengruppe zur zweiten Chance werden kann, dem männlichen Dilemma der Autonomie zu entkommen.

Während der Zivildienst in der verlängerten Jugendphase latent ein erweitertes Feld für die Erprobung eines "anderen Mannseins" anbietet, stellt der Bundeswehrdienst einen Rückzug in einen neuen Männerbund dar, in dem sich nur selten echte Männerfreundschaften entwickeln.

 

Im Kapitel "Bewältigung des Mannseins" wird wieder auf die männlichen Problembereiche "Externalisierung", "Gewalt", etc. angesprochen. Die Vermittlung der Kernfragen gelingt den Autoren hierbei sehr gut.

 

Kapitel acht hat die Erwachsenensozialisation zum Thema. Eine Zusammenfassung der Kristallisationspunkte der Sozialisation des erwachsenen Mannes und deren Auswertung (S. 138-152), beschäftigt sich mit den ungelösten Aufgaben des Mannseins. Partnerschaft und Vaterschaft werden von den Autoren als Bereiche bezeichnet, in denen ein anderes Mannsein gepflegt werden könnte. Den Männerbünden wird ein eigener Unterabschnitt gewidmet. Sie erfüllen die gesellschaftlich-patriarchalen Funktionen der Machtverteilung und Aufrechterhaltung der Machtstrukturen.

 

"Mannsein im Alter" beansprucht ein eigenes Kapitel. Da der gealterte Mann nicht mehr dem beruflichen Leistungs- und Konkurrenzdenken ausgeliefert ist, ergeben sich für ihn neue Chancen aber auch Risiken der Bewältigung des Mannseins.

 

Das elfte Kapitel hat die Gewalt und die Bewältigung des Mannseins zum Thema, wobei die Autoren den Hinweis geben, dass Gewalt immer den Aspekt der Abwertung anderer beinhaltet (S. 195). Soziale Desintegration wird als zentrale Dimension des Gewalthandelns bezeichnet (S. 198). Wiederum wird eine These von Gruen erwähnt, nach der männliche Aggression als Externalisierung und Abstraktion der Angst vor der Unterlegenheit gegenüber der Frau zu verstehen ist (S. 204). Bähnisch/Winter kommen zu dem entscheidenden Ergebnis, dass Männlichkeit, nicht aber das Patriarchat ohne Gewalt denkbar und möglich wäre (S. 212).

 

In Kapitel zwölf schließlich werden die "Horizonte eines anderen Mannseins" beleuchtet. Die Autoren sind dabei sehr selbstkritisch: "Zum einen ist es uns wohl halbwegs gelungen, die Struktur männlicher Sozialisation sichtbar und die psychosoziale Problematik des Mannseins auch empirisch plausibel zu machen. Andererseits konnten wird das ,andere´ Mannsein nicht ausreichend explizieren (...)" (S. 213). Dieses fehlende Angebot von Lösungsvorschlägen, wie denn nun ein neues Mannsein aussehen sollte, ist gleichzeitig mit dem Vorwurf des Theoretisierens (empirische Methoden kommen kaum zur Anwendung) und eines weitgehend nicht vorhandenen geschichtlichen Zugangs zum Mannsein das Hauptmanko des Buches. Insgesamt bekommt man jedoch einen detaillierten Einblick in die Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität, wodurch dieses Werk zur idealen Lektüre für alle jene wird, die an der männlichen Sozialisation interessiert sind.