Juristische Grundbegriffe (Gaius, Inst. 1, 1-8; T)

1. Alle Völker, welche von Gesetzen und Gebräuchen regiert werden, gebrauchen teils ihr eigenes, teils ein allen gemeinsames Recht. Denn das Recht, welches jedes Volk für sich selbst festgelegt hat, das ist sein eigenes und wird Zivilrecht genannt, sozusagen das Recht, das Eigentum des Gemeinwesens ist. Welches aber die natürliche Vernunft unter allen Menschen festgelegt hat, das wird bei allen Menschen völlig gleich befolgt und wird Völkerrecht genannt, sozusagen das Recht, welches alle Völker gebrauchen. Das römische Volk gebraucht also teils sein eigenes, teils das allen Menschen gemeinsame Recht.
2. Die Rechte des römischen Volkes bestehen aber aus den Gesetzen, den Volksentscheiden, den Senatsbeschlüssen, den Verfügungen der Kaiser, den Verordnungen jener, welche das Recht des Verordnens haben und aus den Gutachten der Rechtsgelehrten.
3. Gesetz ist, was das Volk befiehlt und festsetzt. Der Volkentscheid ist, was die Plebs befiehlt und festsetzt. Die Plebs aber unterscheidet sich vom Volk dadurch, daß mit der Bezeichnung Volk alle Bürger benannt werden, mit einberechnet auch die Patrizier; mit der Bezeichnung Plebs aber werden ohne die übrigen Adeligen die übrigen Bürger bezeichnet; daher sagten die Adeligen einst, dass sie von Volksbeschlüssen nicht betroffen werden, weil sie ohne ihre Bekräftigung gemacht worden wären; aber danach ist die Lex Hortensia gegeben worden, mit der bestimmt wurde, dass die Volksentscheide das ganze Volk betreffen: daher sind sie auf diese Weise den Gesetzen gleichgestellt worden.
4. Der Senatsbeschluß ist, was der Senat befiehlt und festsetzt; und das hat Gesetzesrang, wenngleich das in Frage gestellt wurde.
5. Die Verfügung des Kaisers ist, was der Herrscher durch eine Entscheidung oder durch einen Erlass oder einen Brief festgesetzt hat. Und nie ist bezweifelt worden, dass das Gesetzesrang einnimmt, weil der Herrscher selbst durch das Gesetz seine Herrschaft erlangt.
6. Das Recht zu verordnen aber haben die Beamten des römischen Volkes. Aber das umfassendste Recht liegt in den Edikten der zwei Prätoren, des städtischen und des ausländischen, deren Gerichtsbarkeit in den Provinzen ihre Statthalter haben; ebenso in den Edikten der kurulischen Ädilen, deren Gerichtsbarkeit in den Provinzen des römischen Volkes die Quästoren haben; denn in die kaiserlichen Provinzen werden Quästoren überhaupt nicht entsandt, und deswegen wird dieses Edikt in diesen Provinzen nicht veröffentlicht.
7. Gutachten der Rechtsgelehrten sind die Meinungen und Ansichten derer, denen es gestattet ist, Recht zu setzen. Wenn deren aller Ansichten übereinstimmen, hat das, was sie auf diese Weise meinen, Gesetzesrang; wenn sie aber nicht übereinstimmen, ist es dem Richter gestattet, einer beliebigen Auffassung zu folgen; und das wird durch das Reskript des göttlichen Hadrian zum Ausdruck gebracht.
8. Alles Recht aber, das wir verwenden, bezieht sich entweder auf Personen auf Sachen oder auf Tätigkeiten.

Übersetzung von Daniela Hübner

Gerechtigkeit und Recht (Institutiones 1,1; T)

Gerechtigkeit ist der beständige und der dauerhafte Wille, der jedem sein Recht zuteilt. Die Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, die Kenntnis des Gerechten und Ungerechten.
Die Vorschriften des Rechts sind diese: ehrlich zu leben, den anderen nicht zu verletzen, jedem das seine zuzuteilen.

Übersetzung von Daniela Hübner

Der Anfang der Digesten (Dig. 1, 1, 1, pr. - 2; T)

Ulpian im ersten Buch der Unterweisungen, Vorrede: Wer sich um das Recht bemühen wird, muss zuvor wissen, woher der Name Recht abstamme. Es wird aber nach der Gerechtigkeit benannt: denn, wie es Celsus elegant definiert, das Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten.
§ 1 Man könnte uns zu Recht als deren Priester bezeichnen: Denn wir pflegen die Gerechtigkeit und wir lehren die Erkenntnis des Guten und des Gerechten, indem wir das Gerechte vom Ungerechten trennen, das Erlaubte vom Unerlaubten unterscheiden, Menschen nicht nur durch die Angst vor Strafen, sondern auch durch Ermunterung zu Belohnungen gut zu machen wünschen, die wahre - wenn ich mich nicht täusche - Philosophie erstreben, nicht eine scheinbare.
§ 2 In dieser Aufgabe gibt es zwei Bereiche, das Öffentliche und das Private. Das öffentliche Recht ist, was den Zustand des römischen Staates betrifft, das Private, was dem Nutzen der einzelnen dient: denn manches ist öffentlich nützlich, manches privat. Das öffentliche Recht besteht aus Heiligtümern, den Priestern, den Beamten. Das private Recht ist in drei Teile geteilt: es ist nämlich aus den natürlichen Verordnungen oder denen der Völker oder im bürgerlichen Recht gesammelt.

Übersetzung von Daniela Hübner

Rechtsfälle

Kaufvertrag (Gaius, Inst. 3, 139; T)

Kauf und Verkauf wird abgeschlossen, wenn man sich über den Preis geeinigt hat, auch wenn der Preis noch nicht bezahlt wurde und nicht einmal eine Anzahlung gegeben worden ist; denn was unter dem Titel der Anzahlung gegeben wird, ist der Beweis des geschlossenen Kaufvertrages.

Übersetzung von Daniela Hübner

Fundunterschlagung (Ulpianus, ad sabinum XLI - Dig. 47, 2, 43, 4-5; T)

Wer etwas Liegendes, was einem anderen gehört, um einen Gewinn zu machen, aufgehoben hat, wird des Diebstahls verantwortlich (haftbar) gemacht, ob er weiß, wem es gehört, oder es nicht weiß; denn es trägt nichts zur Minderung des Tatbestandes Diebstahl bei, daß er nicht weiß, wessen es sei. Wenn es aber der Eigentümer zurückgelassen hat, geschieht kein Diebstahl daran, auch wenn ich den Willen zum Stehlen gehabt habe; denn ein Diebstahl ereignet sich nur, wenn es jemanden gibt, dem er geschieht.

Übersetzung von Daniela Hübner

Schatzfund (Paulus, Ad edictum XXXI = Dig. 41,1,31,1; T)

Ein Schatz ist eine alte Ablage von Geld (Wertsachen), an die keine Erinnerung besteht, so dass sie keinen Eigentümer mehr hat. So wird sie nämlich Eigentum dessen, der sie findet, weil sie keinem anderen gehört. Wenn jedoch jemand aus Gewinnsucht oder Angst oder zur Aufbewahrung etwas im Boden vergraben hat, ist es kein Schatz. Daran kann auch Diebstahl begangen werden.

Übersetzung von Daniela Hübner

Der Eber in der Schlinge (Proculus; Dig. 41,1,55; T)

In eine Schlinge, die du zum Jagen gelegt hattest, ist ein Eber gegangen. Als er dort hing, nahm ich ihn heraus und brachte ihn weg. Scheint es etwa , dass ich dir deinen Eber weggetragen habe? Und wenn du meinst, dass er dein Eigentum war: wenn ich ihn befreie und in den Wald entlaufen lasse, hört er dadurch auf, dein Eigentum zu sein oder bleibt er es ? Weiters frage ich, welche Klage du gegen mich hast, wenn er aufgehört hat, dein Eigentum zu sein; ob vielleicht eine 'actio in factum' zu geben sei? Er anwortete: Prüfen wir, ob es nicht einen Unterschied macht, ob ich die Schlinge auf öffentlichem oder privatem Grund gelegt habe; und wenn ich sie auf privatem gelegt habe, ob auf meinem oder auf fremdem; und wenn auf fremdem, ob ich sie mit oder ohne Erlaubnis des Grundeigentümers gelegt habe; außerdem ob der Eber so in der Schlinge hing, dass er sich nicht selbst befreien konnte, oder ob er sich durch längere Anstrengung befreit hätte. Der wesentliche Gesichtspunkt ist meiner Meinung, dass er, wenn er in meine Gewalt gelangt ist, mein Eigentum geworden ist. Wenn du aber den Eber, der mein Eigentum geworden ist, wieder in seine natürliche Freiheit entlässt und er dadurch aufhört, mein Eigentum zu sein, müsse mir eine ACTIO IN FACTUM gegeben werden, wie ja auch entschieden worden ist, als jemand den Becher eines anderen vom Schiff ins Wasser warf.

Übersetzung von Daniela Hübner

Besitzerwerb (de acquirenda possessione) (Paulus, Ad edictum L = Dig. 41,2,3,1. 14ff; T)

Paulus im 54. Buch seines Ediktskommentars. Besessen werden kann aber, was körperlich ist. Und wir erwerben Besitz mit Körper und Willen (corpore et animo), nicht allein mit dem Willen oder allein dem Körper. Wenn wir aber gesagt haben, dass wir den Besitz mit Körper und Willen erwerben müssen, ist das allerdings nicht so zu verstehen, dass jemand, der ein Grundstück in Besitz nehmen will, um alle Erdschollen herumgehen muss, sondern es genügt, dass er einen beliebigen Teil dieses Grundstücks betritt, wenn er es in der Absicht und Überlegung tut, das ganze Grundstück bis zum Grenzstein zu besitzen.

Der jüngere Nerva sagt, daß wilde Tiere, die wir in Gehege gesperrt haben, und Fische, die wir in Bassins geworfen haben, von uns besessen werden. Doch jene Fische, die sich im Teich befinden, oder wilde Tiere, die im umzäunten Wäldern umherstreifen, würden von uns nicht besessen, da sie in ihrer natürlichen Freiheit verblieben sind. Sonst wäre auch der Käufer eines Waldes als Besitzer aller wilden Tiere anzusehen, was falsch ist. Vögel aber besitzen wir, wenn wir sie eingesperrt halten oder sie gezähmt haben und unserem Gewahrsam unterworfen sind. Einige (Juristen) nehmen zu Recht an, dass auch Tauben, die von unseren Taubenhäusern ausfliegen, und ebenso Bienen, die aus unseren Bienenstöcken ausschwärmen und gewohnheitsmäßig zurückkehren, von uns besessen werden.

Übersetzung von Daniela Hübner

Verlust von Ladegut (Ulpianus, Ad edictum XVIII = Dig. 9,2,27,33; T)

Wenn vom Lastwagen ein Stein gefallen ist und etwas zerstört oder zerbrochen hat, ist es üblich, daß der Fuhrmann unter die Klage der Lex Aquilia fällt, wenn er die Steine schlecht gelagert hat und sie daher heruntergefallen sind.

Übersetzung von Daniela Hübner

Die angesprochene Person soll als (fiktiver) Richter gerecht entscheiden (Aug. en. Ps. 32,2,1,12; T)

Irgendeinmal hörst du eine Rechtssache zwischen zweien, von denen der eine reich und der andere arm ist; und es trifft zu, dass der Arme eine schlechte Sache hat, der Reiche aber eine Gute. Wenn du nicht gebildet bist, scheint es dir, dass du gut daran tust, wenn du gleichsam den Armen bedauerst und sein Unrecht verbirgst und bedeckst und du ihn gerecht machen willst, damit es erscheint als ob er die gute Sache hätte. Und wenn du getadelt wirst, dass du schlecht geurteilt hast, wirst du antworten: "Ich weiß es genau, doch er war arm, Mitleid wurde diesem geschuldet."

Übersetzung von Daniela Hübner

Das Verhältnis der zwei Streitparteien zum Richter (Aug., en. ps. 25, 2, 13, 21; T)

Es trifft zu, dass zwei Menschen einen Rechtsstreit beim Richter haben. Jeder sagt, dass nur seine Sache die richtige ist; denn wenn er seine Sache für ungerecht hielte, würde er nicht den Richter aufsuchen. Sowohl jener glaubt, dass er eine gerechte Sache hat, als auch jener. Sie kommen zum Richter. Bevor das Urteil vorgetragen wird sagen beide: "Wir schätzen dein Urteil hoch; was auch immer du urteilst, wir werden es nicht zurückweisen. Urteile, was du willst, nur: urteile!" Beide schätzen den Richter, bevor er urteilt. Wenn aber das Urteil gefällt ist, wird es gegen einen sein, und keiner von ihnen weiß, gegen wen es sein wird.

Übersetzung von Daniela Hübner

Rechtsgeschichte

Aus den Zwölftafelgesetzen (ca. 450 v. Chr.; T)

"Der Ursprung allen öffentlichen und privaten Rechts" (Livius 3,34,6)

Wenn (Kläger den Beklagten) vor Gericht ruft, muß (Beklagter dorthin) gehen. Geht er nicht, muß zum Zeugnis aufgefordert werden. Sodann soll (Kläger) ihn ergreifen.

(Übersetzung von R. Düll)

Wenn er einen Körperteil bricht, wenn er es nicht gütlich beilegt, dann soll eine Vergeltungsstrafe sein. (VIII 2)

Wenn er nachts einen Diebstahl begeht, wenn er ihn tötet, soll er zu Recht getötet sein.

Wenn der Schutzherr den Klienten betrogen hat, soll er verflucht sein.

Übersetzung von Daniela Hübner

Kaiser Justinian befiehlt die Erstellung der digesten (cod. 1, 17, 1 [Deo auctore], 4; T)

Wir befehlen euch also, von den gelehrten Alten, welchen die hochheiligen Kaiser die Autorität Gesetzte zu verfassen und zu interpretieren verliehen haben, die Bücher, die das römische Recht betreffen, sowohl zu sammeln als auch auszuarbeiten, damit aus diesen die gesamte Materie gesammelt wird, soweit es möglich ist ohne Rücksicht auf Ähnlichkeit und Widerspruch, sondern dass daraus das gesammelt wird, was allein für alles andere ausreichen soll.

Übersetzung von Daniela Hübner

Die Erstellung der digesten (cod. 1, 17, 2 [tanta] 1. 10; T)

Aber als wir uns nach allem erkundigten, wurde von Tribonian, einem Mann von hohem Rang, mitgeteilt, dass fast 2.000 Bücher zusammengeschrieben wurden und mehr als 300.000 Zeilen aus den Alten herausgenommen wurden, die man alle lesen, durchforschen und aus ihnen, wenn etwas sehr gut wäre, auswählen müsste. Wir gaben den Büchern den Namen Digesten oder Pandekten bei, weil sie alle Untersuchungen und Entscheidungen enthalten, die die Gesetze betreffen, und, was von überall her gesammelt worden war, sie dieses in sich aufnahmen, und in fast 150.000 Versen das ganze Werk zusammenfassen. Aber so große Ehrfurcht wurde von uns dem Altertum entgegengebracht, dass wir es auf keinem Fall dulden, die Namen der Gelehrten in Stillschweigen zu übergehen; aber jeder einzelner dieser, der Autor des Gesetzes war, wurde in unseren Digesten vermerkt.

Übersetzung von Daniela Hübner

Aus dem Vorwort Justinians zu den Institutiones (Institutiones, prooem.; T)

Im Namen unseren Herrn Jesus Christus der Herrscher Cäsar Flavius Iustinianus Alamannicus Gothicus Francicus Germanicus Anticus Alanicus Vandalicus Africanus fromm, glücklich, berühmt, Sieger und Triumphator, immer Augustus an die Jugend, die sich um Gesetze bemüht.

Es ist nötig, dass die kaiserliche Hoheit nicht nur mit Waffen geschmückt, sondern auch mit Gesetzen bewaffnet ist, damit beide Zeiten sowohl die der Kriege als auch die des Friedens richtig gelenkt werden könne und der römische Kaiser als Sieger nicht nur in feindlichen Schlachten hervortritt, sondern auch auf den Bahnen des Gesetzes, wenn er das Unrecht seitens der Verleumder zurückweist, und er genauso höchster Garant des Rechts wie Triumphator über die besiegten Feinde wird.
Wir haben jeden von diesen beiden Wegen mit höchster Wachsamkeit und höchster Vorausschau mit Gottes Zustimmung vollendet. Und unsere kriegerischen Anstrengungen lernen zwar die unter unser Joch geführten barbarischen Völker kennen und sowohl Afrika als auch die anderen zahlreichen Provinzen, die nach so großen Zeitraum durch unsere Siege, die von der himmlischen Gottheit gewährt wurden, wieder der römischen Macht und unserem Reich beigefügt wurden, bezeugen dies. Alle Völker aber werden von Gesetzen, die schon von uns entweder bekannt gemacht oder festgesetzt wurden, regiert. ....
Und als das durch Gottes Gnade vollendet wurde, riefen wir den Tribonianus und auch den Theophilus und den Dorotheus zusammen und trugen ihnen besonders auf, dass sie auf unsere Aufforderung und unser Anraten die Institutiones verfassen, damit es euch möglich ist, die ersten Schritte bei den Gesetzen nicht von alten Sagen zu lernen, sondern vom kaiserlichen Glanz zu erwerben. ... Daher haben wir befohlen, daß nach den 50 Büchern der Digesten oder Pandekten, in denen alles alte Recht zusammengetragen ist (die wir durch denselben Mann von hohem Rang, Tribonianus, und auch die anderen erlauchten berühmten und höchst redegewandten Männer fertiggestellt haben), auf diese vier Bücher dieselben Institutiones eingeteilt werden, damit sie ein Anfängerlehrgang der gesamten Gesetzeswissenschaft sind.

Übersetzung von Daniela Hübner

Seiten erstellt und betreut von Clemens Weidmann.