Deutsch
Helene, geb. Rosenbach
Psychoanalytikerin
und Fachärztin für Psychiatrie
Geb.
Przemysl, Galizien, 9.10. 1884
Gest.
Cambridge/MA, USA, 29.4. 1982
Emigrationspfad:
1934 USA / Boston
Herkunft,
Verwandtschaften:
H.
D. kam als jüngstes von vier Kindern (zwei Schwestern, ein Bruder) des angesehenen
jüdischen Rechtsanwalts Wilhelm Rosenbach und Regina Fass-Rosenbach zur Welt.
Im hohen Alter erwähnte sie, dass Przemysl für sie der „Mittelpunkt der Welt“
blieb. Die Stadt war damals Teil der Habsburger-Monarchie und H. D. wuchs in einer
spannungsvollen politischen Atmosphäre auf. Ihre Mutter sprach zu Hause deutsch,
aber die Kinder zogen aus Sympathie zu dem, was für sie ein überfallenes Land
war, das Polnische vor. Obwohl sie inmitten einer traditionellen Großfamilie aufwuchs,
stellte sie in späteren Jahren nur ihre Verbundenheit mit dem Vater heraus, den
sie als die stärkste Quelle ihrer Fähigkeiten betrachtete, während sie schon früh
unter dem gesellschaftlichen Ehrgeiz und dem Konformismus der Mutter litt.
LebenspartnerInnen,
Kinder:
In
ihrer Jugend war H. D. mit dem wesentlich älteren sozialistischen Politiker und
Rechtsanwalt Hermann Liebermann liiert. Mit ihm verband sie jahrelang eine leidenschaftliche,
von vielen Unglücksfällen durchkreuzte Liebe, die einen gesellschaftlichen Skandal
darstellte, da Liebermann verheiratet war. 1912 heiratete sie den Internisten
Felix Deutsch. Diese Beziehung, wenn auch weniger leidenschaftlich als jene zu
Liebermann, erwies sich als stabil, beide sahen in der beruflichen Arbeit ihre
Erfüllung. Obwohl Felix Deutsch Pionierarbeit auf jenem Gebiet, das man heute
als psychosomatische Medizin kennt, leistete, wie seine Frau Psychoanalytiker
wurde und vorübergehend auch Hausarzt Sigmund Freuds war, verblieb er zeitlebens
im Schatten seiner Frau, welche eine der führenden Gestalten der Psychoanalyse
wurde. 1917 kam ihr Sohn Martin zur Welt. Martin Deutsch war im Widerstand gegen
die Regierung Dollfuß aktiv und wurde zum Anlass für die frühe Emigration der
Familie nach Boston.
Ausbildungen:
H.
D. besuchte zwei Jahre lang eine private Mädchenschule in Przemysl und anschließend
in Lemberg, wo sie auch maturierte.
1907 Medizinstudium in Wien und München,
1912 Promotion an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, psychoanalytische
Ausbildung bei Sigmund Freud, 1923 Lehranalyse in Berlin bei Karl Abraham.
Laufbahn:
H.
D. sah sich bis ins hohe Alter als „Rebellin“. Die Verbindung mit Hermann Liebermann
weckte schon früh ihre Anteilnahme am politischen Leben. So gründete H. D. in
Przemysl die erste Organisation von Arbeiterinnen, leitete einen Frauenstreik
und lernte 1910 auf dem 1. Kongress der Sozialistischen Internationale in Stockholm
Rosa Luxemburg kennen.
Von
1912 bis 1918 arbeitete H. D. als unbezahlte Assistenzärztin an der Psychiatrischen
Universitätsklinik (Wagner-Jauregg) in Wien; während des Ersten Weltkriegs war
sie Leiterin der psychiatrischen Frauenabteilung. 1918 musste sie ihre Stelle
als leitende Ärztin wieder aufgeben, da Frauen offiziell keinen Anspruch auf führende
Positionen hatten, vermutlich aber auch, weil Freud, bei dem sie im selben Jahr
ihre psychoanalytische Ausbildung begonnen hatte, in Rivalität zur damaligen Wiener
Psychiatrie stand und psychiatrischer Tätigkeit gegenüber missgünstig gestimmt
war.
1918
wurde sie Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) und war maßgeblich
am Aufbau des psychoanalytischen Lehrinstituts beteiligt, dessen Leitung sie von
seiner Gründung 1925 bis zu ihrer Emigration innehatte. 1932 übernahm sie in der
Nachfolge von Wilhelm Reich auch die Leitung des behandlungstechnischen Seminars.
Nach
einer Vortragsreise in die Vereinigten Staaten emigrierte H. D. 1934 – gegen den
ausdrücklichen Wunsch Sigmund Freuds, aber in Hinblick auf die akute Gefährdung
ihres politisch engagierten Sohnes – nach Boston. Bis zum Tod ihres Mannes 1964
arbeitete sie als Lehranalytikerin der Boston Psychoanalytic Society und half
beim Aufbau einer psychiatrischen Abteilung.
Anfang
der siebziger Jahre erregte H. D. mit der Teilnahme an einer Anti-Vietnam Demonstration
im Arztmantel großes Aufsehen.
Spezieller
Wirkungsbereich:
H.
D. gilt als eine der wichtigsten Frauen in der Geschichte der Psychoanalyse, sie
wurde als privilegierte Schülerin Freuds, als Theoretikerin der weiblichen Sexualität
– wenn auch nicht unkritisiert - der Neurosenlehre und der Charakterpathologie
ebenso wie als Lehranalytikerin dreier Generationen hoch geschätzt.
Seit
den frühen zwanziger Jahren publizierte H. D. schwerpunktmäßig zur Psychologie
der Frau und der weiblichen Sexualität,
Mit
der 1925 präsentierten Arbeit „Zur Psychologie der weiblichen Sexualfunktionen“
legte sie erstmals eine systematisch geschlossene psychoanalytische Studie zur
Weiblichkeit vor. Die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Arbeit durch klinische
Beobachtung und Selbstanalyse führte zu dem umfangreichen, 1944/45 publizierten
Hauptwerk „The Psychology of Women".
Schon in ihren frühen Jahren traten die Schwierigkeiten ihres wissenschaftlichen Unternehmens zutage. Eine der Schwächen in Freuds vaterzentriertem psychoanalytischem Gebäude ist seine Ansicht über Frauen, was später zum Brennpunkt erster grundsätzlicher Kritiken am psychoanalytischen Denken werden sollte. Seine Beschreibungen der Psyche der Frau sind von Widersprüchlichkeit gezeichnet. Sie blieb für ihn ein dark continent. Einerseits gestand er seine Unkenntnis ein, andererseits konnte er nicht vermeiden, auf die sozialen Muster seiner Zeit, auf die kulturellen Vorurteile über Männlichkeit und Weiblichkeit zurückzugreifen, um auf so unsicherem Gebiet Orientierung zu finden. H. Ds. Arbeiten zeugen von einer Gratwanderung, denn von allen AnalytikerInnen ihrer Zeit stellt sie mehr als die anderen die Konsequenzen aus Freuds Ideen für die Frauen heraus. Ihre Denkarbeit folgte zwar dem Freudschen Ansatz und übernimmt seine Vorstellungen von Ödipuskomplex, Penisneid und Kastrationskomplex, wandte diese aber auf die Probleme der Weiblichkeit an.
Ihre
Konzentration auf die Bedeutung der Fortpflanzungsfunktion für die Psyche der
Frau, auf die Mütterlichkeit und ihre Schilderung der Schwangerschaft und des
Stillens vom weiblichen Standpunkt aus bedeutete im Vergleich zu Freuds Darstellung
der weiblichen Sexualität aus der Perspektive des Mannes und des Kindes einen
großen Fortschritt. Hatte Freud argumentiert, dass sich das „Ich-Ideal“ aufgrund
der Identifizierung mit dem Vater bildet, so ging H. D. davon aus, dass das weibliche
Selbstwertgefühl wesentlich von der Mutterrolle gestärkt wird. Nicht unkritisiert
blieb jedoch, dass ihre Auffassungen der weiblichen Sexualität und der Geschlechterdifferenz
– ihr Konzept der Bisexualität spielt dabei eine Rolle – die sozialen Bedingtheiten
vernachlässige.
Wenn
sich auch manche ihrer Ansichten aus zeitlicher Distanz als patriarchalisch geprägte
Vorurteile erweisen – dies betrifft vor allem die ziemlich einseitige, negative
und beharrliche Gleichsetzung von Mütterlichkeit und Weiblichkeit mit Passivität
und Masochismus -, die Intensität, mit der H. D. mit den Methoden der Psychoanalyse
daran arbeitete, die Probleme der Geschlechterdifferenz mit ihren psychischen
und gesellschaftlichen Auswirkungen zu begreifen, wurde von den meisten AnalytikerInnen
der nächsten Generation nicht mehr erreicht.
Ein
weiterer Schwerpunkt ihrer Interessen war die pathologische Lüge und die Täuschung,
psychische Phänomene, die sie in einer Reihe von Aufsätzen behandelte und deren
Analyse sie zu der Annahme des klinischen Bildes von „Als-ob-Persönlichkeiten“
führte.
Obgleich
sie sich in Vorträgen immer noch mit der „Psychologie der Frau“ beschäftigte,
befasste sie sich zunehmend auch mit der „Psychologie des Mannes“, insbesondere
mit den Schwankungen seines narzisstischen Selbstwertgefühls.
In
den Vereinigten Staaten publizierte sie – beeinflusst von der Ich-Psychologie
– theoretische Arbeiten zur Neurosenlehre und Charakterpathologie. Sie widmete
sich den Problemen von Jugendlichen und der Mythologie. In ihrer 1973 erschienenen
Autobiografie „Confrontations with Myself“, die sie als Ergänzung zur „Psychologie
der Frau“ sah, bezeichnete sie die Revolutionärinnen Angelika Balabanoff und Rosa
Luxemburg als ihr „Ich-Ideal“. Es zeugt von ihrer Gespaltenheit, dass es aber
dennoch Männer waren, die – ihrer Ansicht nach - bestimmend auf ihr Leben gewirkt
hatten:
„Rückblickend erkenne ich drei entscheidende Wendepunkte in meinem Leben: die Befreiung von der Tyrannei meiner Mutter; die Begegnung mit dem Sozialismus; und die Sprengung der Ketten des Unbewussten ... Bei jeder dieser Revolutionen hatte ich die Inspiration und Hilfe eines Mannes – meines Vaters, Hermann Liebermanns und zuletzt Freuds.“
Werkangaben:
Zur
Psychologie des Mißtrauens. In: Imago 1921, 7, S. 71 - 83.
Zur
Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. Internationaler Psychoanalytischer
Verlag, Leipzig, Wien, Zürich 1925.
Psychoanalyse
der Neurosen. Elf Vorlesungen gehalten am Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1930.
Don
Quijote und Donquijotismus. In: Imago 1934, 20, S. 444 - 449.
The
Psychology of Women; A Psychoanalytic Interpretation. Vol 1: Girlhood. Grune &
Stratton, New York 1944; Vol 2: Motherhood. Grune
& Stratton, New York 1945 (deutsch: Psychologie der Frau. Bd. 1, Huber, Bern
1948; Bd. 2, Huber, Bern 1954).
Neuroses
and character types: Clinical psychoanalytic studies. International Universities
Press, New York, HIP, London 1965.
Selected
Problems of Adolescence. International Universities Press, New York 1967.
A
psychoanalytic study of the myth of Dionysos and Apollo. International Universities
Press, New York 1969.
Confrontations
with Myself. An Epilogue. W.W. Norton, New York 1973 (dt.: Selbstkonfrontation.
Eine Autobiographie. München 1975).
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