Geschichte: Überblick

Germanistik in Wien
Zur Geschichte des Faches von 1848 bis 2000

Elisabeth Grabenweger

Eine moderne, d.h. als Universitätswissenschaft legitimierte Germanistik etablierte sich in Österreich mit der Universitätsreform von 1848/49. Im Blickpunkt des Interesses stand dabei zum einen die universitäre Vertretung der deutschen Sprache in allen Kronländern der österreichisch‐ungarischen Monarchie, also eine (kultur-)politische Absicht; zum anderen musste durch die grundlegende Umstrukturierung und Erweiterung des höheren Schulwesens der gestiegene Bedarf an Deutschlehrern gedeckt werden.

An der Universität Wien wurde der erste Lehrstuhl für „Deutsche Philologie“ 1850 mit Theodor von Karajan besetzt und bereits 1868 ein zweites Ordinariat eingerichtet, was dazu führte, dass die bis heute bestehende Trennung des Faches in eine neuere und eine ältere Abteilung in Wien als erster Universität im deutschen Sprachraum vollzogen wurde. Beide Abteilungen orientierten sich zunächst an den Arbeitstechniken der Klassischen Philologie, beschäftigten sich mit Edition, Kritik und Kommentar und waren in institutioneller Ausrichtung und wissenschaftlicher Herangehensweise maßgeblich von Wilhelm Scherer geprägt, der den Wiener Lehrstuhl für das ältere Fach von 1868 bis 1872 inne hatte. Scherer gehörte zu den berühmtesten und wissenschaftsorganisatorisch einflussreichsten Germanisten im 19. Jahrhundert; ab den 1870er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg beherrschten seine (Wiener) Schüler sowohl die alt‐  wie auch die neugermanistischen Lehrstühle im deutschsprachigen Raum (neben Wien u.a. Berlin, Lemberg, Prag, Straßburg). Kulturpolitisch wandelte sich der ursprünglich im Vielvölkerstaat als integrativ verstandene Ansatz einer Wissenschaft der deutschen Sprache und Literatur ab den 1860er Jahren zu einer Wissenschaft vom „Deutschtum“, d.h. zu einer politisch ausgerichteten Nationalphilologie.

Nach dieser Phase der Konsolidierung des Faches lässt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in innerwissenschaftlicher Hinsicht als auch mit Blick auf die Positionierung der Germanistik im Fächerkanon der Universität eine Veränderung ausmachen. So verliert die Klassische Philologie ihre paradigmatische Rolle als methodische Leitdisziplin zugunsten einer zunehmend an philosophischen, kunsttheoretischen und soziologischen Ansätzen orientierten (Neu‐)Germanistik. Diese Umorientierung machte sich auch in der Ordnung der Professorenfolge bemerkbar: Nach dem Tod von Jakob Minor 1912, des Wiener Ordinarius für die neuere Abteilung, wurde nach zwei Jahre andauernden, erbitterten Auseinandersetzungen zum ersten Mal kein Scherer‐Schüler berufen, sondern der aus Posen stammende Walther Brecht, ein Vertreter der „Neuen Geistesgeschichte“. In Brechts bis 1927 andauernde Amtstätigkeit fällt eine Verfünffachung der Studierendenzahlen, die Habilitation der ersten Wissenschaftlerinnen (1921 Christine Touaillon als erste Germanistin in Österreich; 1924 Marianne Thalmann und 1927 Lily Weiser) und die zunehmende Entfernung des Neuen vom Alten Fach, das sich mit Dietrich Kralik und Rudolf Much einer national‐mythisch ausgerichteten Germanen‐ und Altertumskunde verschrieb.

Spätestens ab Anfang der 1930er Jahre ist die Wiener Germanistik mit dem Namen Josef Nadler verbunden, der als Verfasser der groß angelegten, vierbändigen „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ 1931 die Wiener Neugermanistik‐Professur antrat. Nadlers Berufung kann als Symptom eines Wandels gelesen werden, der die vergleichsweise offene wissenschaftliche Haltung der Wiener Germanistik in den 1920er Jahren beendete und sowohl im älteren als auch im neueren Fach die Volkskunde zur Legitimationsinstanz von Forschung und Lehre werden ließ (und gleichzeitig die Annäherung einer an der Scholle interessierten, zeitgenössischen Literatur erkennen lässt). Politisch bedeuteten die 1930er Jahre eine neue Situation: Ein Großteil der Professoren und akademischen Funktionäre begann seine Sympathien für den sich etablierenden Nationalsozialismus offen zu zeigen. Frühpensionierungen, die mit der Lage der Staatsfinanzen begründet wurden, trafen im Sommer 1934 ausschließlich jüdische Wissenschaftler: zum einen den außerordentlichen Professor für das ältere Fach Max Hermann Jellinek, zum anderen den neugermanistischen Titularprofessor Robert Franz Arnold.

Der März 1938 wurde von den meisten Wiener Germanisten als Ziel ihrer politischen Wünsche begrüßt: Nadler sah als Großdeutscher den Lauf der österreichischen Geschichte erfüllt, der neugermanistische Privatdozent Hans Rupprich avancierte zum Fakultätsvertreter des NS‐Dozentenbundes, die Altgermanisten Siegfried Gutenbrunner, Walter Steinhauser und Richard Wolfram entpuppten sich als illegale Nationalsozialisten. In den zwangsweisen Ruhestand versetzt wurde der Neugermanist Eduard Castle, Herausgeber der bis heute unentbehrlichen „Deutsch‐österreichischen Literaturgeschichte“, die den NS‐Behörden als „politisch unzuverlässig“ erschien; der Entzug der Venia Legendi aus „rassischen“ Gründen betraf den seit 1935 in London lebenden Privatdozenten Stefan Hock und den emeritierten Altgermanisten Max Hermann Jellinek. Von den Studierenden der Wiener Universität wurde fast ein Viertel exmatrikuliert. 1945 hätten laut Verbotsgesetz – mit Ausnahme von Edmund Wießner – sämtliche Wiener Germanisten entlassen werden müssen, dauerhaft enthoben wurde aber nur Josef Nadler.

Zwischen 1945 und den 1960er Jahren machte die Wiener Germanistik in wissenschaftlicher Hinsicht kaum von sich reden. Mit Ausnahme der Berufung von Oskar Benda, der mit seiner Schrift „Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft“ (1928) den bis in die 1960er Jahre einzigen Beitrag eines österreichischen Germanisten zur Methodendiskussion leistete, und der Wiedereinstellung Eduard Castles setzte man auf Kontinuität: Das ältere Fach vertrat weiterhin Dietrich Kralik, das neuere Hans Rupprich. Gemeinsam war diesen Wissenschaftlern, dass sie – mit Ausnahme Bendas – eine empirische bzw. philologische Literaturbetrachtung präferierten. Für die wissenschaftliche Attraktivität des Faches sorgte 1957 ausgerechnet die Berufung von Otto Höfler, der – nationalsozialistisch schwer belastet – eine in Wien bis zur Jahrtausendwende dominierende Schule der Altgermanistik bildete. In der Sprachwissenschaft pflegte man weiterhin Traditionen der Mundartforschung. An der Neugermanistik vollzog sich jedoch ab den 1960er Jahren eine inhaltliche wie methodische Erweiterung und Neuorientierung, an der u.a. Wendelin Schmidt‐Dengler maßgeblich beteiligt war. Die spätestens seit der Bildungsreform in den 1970er Jahren als Massenfach zu bezeichnende Wiener Germanistik umfasste seither ein breites Spektrum an methodischen Zugängen sowie inhaltlichen Ausrichtungen und ist bis heute eines der größten Institute der philosophischen bzw. philologisch‐kulturwissenschaftlichen Fakultät.

Wien, Februar 2013